Welche Konsequenzen hat es, wenn sich die Betriebspartner im Rahmen der Sozialauswahl über eine Auswahlrichtlinie hinwegsetzen?
Arbeitgeber und Betriebsrat können Auswahlrichtlinien im Sinne von § 1 Abs. 4 KSchGspäter oder zeitgleich -etwa bei Abschluss eines Interessenausgleichs mit Namensliste-ändern. Setzen sich die Betriebsparteien in einem bestimmten Punkt gemeinsam über dieAuswahlrichtlinie hinweg, gilt die Namensliste.
(BAG, 24.10.2013, 6 AZR 854/11, GWR 2014. 22)
Dringendes betriebliches Erfordernis: wie konkret muss die beabsichtigte Betriebsstilllegung sein?
1. Schon eine beabsichtigte Betriebs- oder Abteilungsstilllegung kann sich ausnahmsweise als eindringendes betriebliches Erfordernis im Sinne von § 1 II KSchG darstellen, nämlich dann, wenn die für den künftigen Wegfall der Beschäftigung des Arbeitnehmers maßgeblichen Entwicklungen bereits zum Kündigungszeitpunkt feststehen.
2. Die zur Kündigung führende Organisationsentscheidung muss bereits zum Kündigungszeitpunktendgültig getroffen worden sein und die Schließung des Betriebs oder der Betriebsabteilung aus Sichtder Arbeitsvertragsparteien zum Kündigungszeitpunkt bereits Formen angenommen haben. Deswe-gen ist eine Kündigung wegen Betriebsschließung nicht sozial gerechtfertigt, solange der Arbeitgeberden Stilllegungsbeschluss lediglich erwogen, aber noch nicht endgültig gefasst hat. Gleiches gilt,wenn der Arbeitgeber im Kündigungszeitpunkt noch in ernsthaften Verhandlungen über die Veräuße-rung des Betriebs oder der Betriebsabteilung steht oder sich um neue Aufträge bemüht. Dann liegtkeine unbedingte und endgültige Stilllegungsabsicht vor.
3. Diese Grundsätze gelten auch für gemeinnützige, am Markt teilnehmende Unternehmen.(BAG, Urteil vom 13.2.2008 - 2 AZR 543/06; NZA 2008, 821)
Dringendes betriebliches Erfordernis: Ist es zulässig, Arbeitsplätze abzubauen, um die Tätigkeiten künftig von selbständigen Dritten ausführen zu lassen?
1. Die Entscheidung des Unternehmers, bestimmte Aufgaben in Zukunft nicht mehr durch Arbeitneh-mer, sondern durch freie Mitarbeiter ausführen zu lassen, kann als dringendes betriebliches Erforder-nis i.S. des § 1 II 1 KSchG eine ordentliche Kündigung rechtfertigen.
2. Es ist von der Unternehmerfreiheit gedeckt und nicht missbräuchlich, wenn ein Arbeitgeber sichentschließt, Aufgaben nicht mehr selbst unter Einsatz eigener Arbeitnehmer zu erledigen, sonderndurch Dritte vornehmen zu lassen.
3. Das Gesetz zwingt den Marktteilnehmer nicht, den Bedarf an Leistungen ausschließlich durch Ar-beitsverträge zu decken. Er kann vielmehr auf jeden rechtlich zulässigen Vertragstyp zurückgreifen,muss aber dann auch die jeweiligen - auch nachteiligen - rechtlichen Folgen in Kauf nehmen.
4. So verzichtet er, wenn er keine Arbeitsverträge schließt, auf das Direktionsrecht. Der Unternehmerbegibt sich in Umsetzung seiner unternehmerischen Entscheidung seines gerade durch das persönIi-che Weisungsrecht geprägten Einflusses auf seine vormaligen Arbeitnehmer.
5. Voraussetzung ist, dass es sich bei den neu einzugehenden Vertragsverhältnissen tatsächlich undnicht nur zum Schein um solche vonr freien Mitarbeitern handelt.
(BAG, Urteil vom 13.3.2008 - 2 AZR 1037/06; NZA 2008, 878)
Welche Auswirkungen hat eine zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat vereinbarte Namensliste auf eine betriebsbedingte Kündigung?
1. Nach 1 V 1 KSchG wird vermutet, dass die Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisseim Sinne des Abs. 2 bedingt ist, wenn bei der Kündigung auf Grund einer Betriebsänderung nach § 111 BetrVG die Arbeitnehmer, denen gekündigt werden soll, in einem Interessenausgieich zwischenArbeitgeber und Betriebsrat namentlich bezeichnet sind.
2. Die Vermutungsbasis, dass eine Betriebsänderung nach § 111 BetrVG vorlag und für die Kündi-gung des Arbeitnehmers kausal war und dass der Arbeitnehmer ordnungsgemäß in einem Interes-senausgieich benannt ist, hat dabei der Arbeitgeber substantiiert darzulegen und ggf. zu beweisen.
3. Der eingeschränkte Maßstab der groben Fehlerhaftigkeit im Sinne des § 1 V 2 KSchG bei Vorlage einer namensliste umfasst auch dann die Bildung des auswahlrelevanten Personenkreises, wenn es um die Frage geht, ob Arbeitnehmer einer anderen Arbeitsstätte in die Auswahl einzubeziehen sind.
4. Grob fehlerhaft ist eine soziale Auswahl nur, wenn ein evidenter, ins Auge springender schwererFehler vorliegt und der Interessenausgleich jede Ausgewogenheit vermissen lässt.
5. Durch § 1 V 2 KSchG soll den Betriebspartnern ein welter Spielraum bei der Sozialauswahl einge-räumt werden. Das Gesetz geht davon aus, dass u.a. durch die GegensätzIichkeit der von den Betriebspartnern vertretenen Interessen und durch die auf beiden Seiten vorhandene Kenntnis der betrieblichen VerhäItnisse gewährleistet ist, dass dieser Spielraum angemessen und vernünftig genutztwird. Nur wo dies nicht der Falll ist, sondern der vom Gesetzgeber gewährte Spielraum verlassen wird,so dass der Sache nach nicht mehr von einer "sozialen" Auswahl die Rede sein kann, darf grobe Feh-lerhaftigkeit angenommen werden.
6. Hat der Arbeitgeber entgegen § 1 III KSchG keine Sozialauswahl vorgenommen, so spricht einevom Arbeitgeber auszuräumende tatsächliche Vermutung dafür, dass die Auswahl auch im Ergebnissozialwidrig ist.
7. Der Arbeitgeber muss dann darlegen, weshalb trotz der gegen § 1 III KSchG verstoßenden ÜberIe-gungen ausnahmsweise im Ergebnis soziale Gesichtspunkte ausreichend berücksichtigt sein sollen.(BAG, Urteil vom 3.4.2008 - 2 AZR 879/06; BeckRS 2008, 53966)-
Kann der Arbeitgeber das Anforderungsprofil an einen Arbeitsplatz beliebig disponieren zur Begründung eines dringenden betrieblichen Erfordernisses?
Die Gestaltung des Anforderungsprofils an einen Arbeitsplatz unterliegt grds. der freien unternehmerischen Disposition. Das Bestreben des Arbeitgebers, bestimmte Tätigkeiten - nach Möglichkeit - nur von Arbeitnehmern mit bestimmten Qualifikationen ausführen zu lassen, ist grds. zu akzeptieren. Die Vorgaben können von den Arbeitsgerichten nur auf Willkür und offenbare Unrichtigkeit kontrolliert werden, die zu verneinen sind, wenn die Qualifikationsmerkmale einen nachvollziehbaren Bezug zu den auszuführenden Tätigkeiten haben ( BAG 22.10.2015, 2 AZR 582/14, NZA 2016, 33 ).
Sozialauswahl: Darf der Arbeitgeber bei Ausspruch einer betriebsbedingten Kündigung Altersgruppen bilden?
Gem. § 1 III 1 KSchG hat der Arbeitgeber bei der Sozialauswahl neben der Dauer der Betriebszugehörigkeit, den Unterhaltspflichten und der Schwerbehinderung auch dem Lebensalter der von einer Kündigung betroffen Arbeitnehmer innerhalb der Gruppe der vergleichbaren Arbeitnehmer Rechnung zu tragen. Damit ist im Grundsatz die Kündigung des Jüngeren vor dem Älteren vorgegeben. Der Arbeitgeber darf aber gem. § 1 III 2 KSchG unter dem Gesichtspunkt der Sicherung der Personalstruktur durch Altersgruppenbildung nach der Rechtsprechung von diesem Grundsatz unter bestimmten Voraussetzungen abweichen ( vgl. zuletzt BAG 26.03.2015, NZA 2016, 65 ). Danach ist es dem Arbeitgeber gestattet, innerhalb einer Vergleichsgruppe ( z.B. der Facharbeiter einer bestimmten Fachrichtung ohne Meisterbrief ) Arbeitnehmer in Altersgruppen zu sortieren - regelmäßig in Fünf- oder Zehnjahresschritten ( vgl. BAG 6.09.2007, NZA 2008, 405; 6.11.2008, NZA 2009, 361; 12.03.2009, NZA 2009, 1023; 15.11.2011, NZA 2012, 1044 ). Bei der Auswahl der zu Kündigenden ist der Arbeitgeber berechtigt, die auf die jeweilige Vergleichsgruppe entfallende Anzahl von zu kündigenden Arbeitnehmern in dem prozentualen Verhältnis auf die Altersgruppen unter Beachtung ihres Rankings in der Altersgruppe zu verteilen, in dem die Anzahl der zu kündigenden Arbeitnehmer einer Vergleichsgruppe zur Anzahl der aller Arbeitnehmer dieser Vergleichsgruppe steht. Nach der Rechtsprechung des BAG setzt eine wirksame Sozialauswahl nach Altersgruppen aber Folgendes voraus:
1. Eine Sozialauswahl ohne Altersgruppen muss sich im Vergleich einer solchen nach Altersgruppen nachteilig auf die Altersstruktur auswirken, was vermutet wird, wenn die Schwellenwerte des § 17 KSchG erreicht sind und insoweit die Voraussetzungen einer Massenentlassung vorliegen.
2. Die Anzahl der gekündigten Arbeitnehmer in den Altersgruppen muss dem bisherigen prozentualen Anteil der Altersgruppen an der Gesamtbelegschaft entsprechen, es darf also nicht mehr Altersgruppen als auszusprechende Kündigungen geben.
3. Bei Bruchteilen von zu kündigenden Arbeitnehmern, also bei rechnerisch sich ergebenden Zahlen mit Stellen nach dem Komma, ist vorrangig in der jüngeren Altersgruppe eine weitere Kündigung auszusprechen, sog. Sozialauswahl zwischen Altersgruppen.